Reguläre Temperatur

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Das Paradigma der regulären Temperaturen ist ein mächtiges Konzept, das unter anderem eine Verallgemeinerung der Idee der historischen mitteltönigen Stimmung leistet, jedoch noch weit darüber hinausgeht.

Einführung am Beispiel der mitteltönigen Temperatur

Die Grundidee der mitteltönigen Temperaturen kann man herleiten aus der Beobachtung, dass man bei Übereinanderschichtung von 4 reinen Quinten (Frequenzverhältnis 3/2) oktavreduziert auf dem Intervall 81/64 (407.82 Cent) landet, das nahe an der reinen grossen Terz (5/4, 386.31 Cent) liegt, jedoch etwas höher und weniger konsonant ist als diese, und aus dem Wunsch, ein Tonsystem mit möglichst reinen grossen Terzen zu haben, dabei aber die Gesamtmenge der notwendigen Töne überschaubar zu halten.

Denn während in einem nur auf Quinte und Oktave aufbauenden Tonsystem (also einem pythagoräischen) die Skalen eine relativ regelmässige Struktur haben (typischerweise MOS-Skalen wie die pentatonische und die diatonische Skala mit nur 2 Intervallgrössen), entstehen durch Hinzunahme der reinen Terz Skalen von unregelmässiger Gestalt mit vielen verschiedenen Intervallgrössen, was die Möglichkeiten für Transponieren und Modulationen einschränkt - oder aber Tonvorräte mit einer grossen Anzahl verschiedener Tonhöhen nötig macht.

Beispielsweise wird in reiner Stimmung die grosse Terz 5/4 in zwei verschieden grosse Ganztöne geteilt, einen grossen (9/8, 203.91 Cent) und einen kleinen (10/9, 182.40 Cent).

Die Lösung besteht bekanntlich darin, als Grundintervall eine um einen minimalen Betrag verkleinerte Quinte zu verwenden, so dass 4 solcher Intervalle oktavbereinigt eine reine grosse Terz (oder ein Intervall nahe daran) ergeben.

Der Unterschied zwischen der aus 4 reinen Quinten hergeleiteten und der reinen grossen Terz, ein Intervall der Grösse 21,506 Cent, welches syntonisches Komma genannt wird, wird in der mitteltönigen Stimmung also zum Verschwinden gebracht - "austemperiert" ist der Fachausdruck dafür.

Das Tonmaterial bei einer mitteltönigen Stimmung wird auf dieselbe Art generiert wie beim pythagoräischen System, nämlich durch Übereinanderschichten des Generatorintervalls, und hat als Resultat ebenfalls die einfachere Struktur von MOS-Skalen mit besserer Transponierbarkeit. Die mitteltönige Temperatur repräsentiert so eine Mittelposition zwischen reinen und gleichstufigen Tonsystemen:

Reine Stimmung Mitteltönige Temperatur Gleichstufige Stimmung
Alle Intervalle rein Wichtige Intervalle in nach Wunsch grosser Reinheit Alle Intervalle (ausser der Oktave bzw. dem Periodenintervall) nur angenähert, manche insbesondere bei kleinen Systemen nicht sehr rein
Skalen unregelmässiger Gestalt mit vielen verschiedenen Intervallgrössen, daher beschränkte Transponierbarkeit und Modulationsmöglichkeiten oder aber eine grosse Anzahl Töne notwendig Skalen in MOS-Form (d.h. Basisintervalle in 2 Grössen), gute Möglichkeiten zu Transposition und Modulation bei überschaubarer Gesamtmenge von Tönen Tonmaterial absolut gleichmässig, unbeschränkte Transponierbarkeit und beliebige Modulationen möglich, auch bei kleiner Grundmenge an Tönen

Andererseits ist etwa bei der heute verbreitetsten gleichstufigen Stimmung 12-EDO die Approximation der Quinte ebenfalls minim tiefer als die reine, und das Tonsystem zeigt ebenfalls die oben skizzierten mitteltönigen Eigenschaften wie: 4 Quinten führen zu einer grossen Terz, die kleiner ist als die pythagoräische und in zwie gleich grosse Ganztöne teilbar ist. Man kann also 12-EDO ebenfalls als mitteltöniges System bezeichnen.

Verallgemeinerung

Die Verallgemeinerung erfolgt auf natürliche Weise. Eine allgemeine reguläre Temperatur wird demgemäss charakterisiert durch folgende Elemente:

  • Gegeben ist ein grundlegendes Intervall, "Generator" genannt (im obigen Beispiel eine minim verkleinerte Quinte), sowie ein Intervall namens "Periode" (im obigen Fall eine Oktave)
  • Die Töne der Stimmung werden ermittelt durch sukzessives Übereinanderschichten des Generatorintervalls. Wenn man dabei auf einem Intervall landet, das grösser ist als die Periode, wird es um die Periode wieder verkleinert.
  • Dadurch ergibt sich ein Vorrat von Tönen innerhalb eines Periodenintervalls. In jeder Periode (typischerweise Oktave) wird dieser Grundvorrat dann reproduziert
  • Das Generatorintervall (und manchmal das Periodenintervall) wird häufig ausgewählt im Hinblick auf ein Komma, das austemperiert werden soll. Ein oder mehrere Kommas stehen i.d.R. sogar am Anfang der Definition einer regulären Temperatur, und der Generator ergibt sich daraus. (Zu mehr Details, wie man vom Komma zum Generator kommt, siehe Verallgemeinerte reguläre Temperatur.)

Aus diesen Definitionen ergeben sich weitere Eigenschaften:

  • Das Austemperieren von Kommas hat direkte Auswirkungen auf die Beziehungen der Töne und Intervalle einer Temperatur, und je nach dem, welche Kommas austemperiert werden, können diese Auswirkungen recht verschieden sein. Aus dem Austemperieren des syntonischen Kommas 81/80 beispielsweise folgt, dass es keinen Unterschied zwischen kleinem und grossem Ganzton gibt und dass die grosse Terz in zwei gleich grosse Teile teilbar ist. Für jede Temperatur ergeben sich so typische melodische und harmonische Wendungen (siehe auch Kommapumpe).
  • Aus dem Konstruktionsprinzip ersieht man, dass das Tonmaterial in MOS-Skalen strukturiert auftritt. Im Falle der mitteltönigen Stimmung sind das die pentatonische Skala mit der Struktur 2L 3s (zwei große, drei kleine Intervalle) sowie die diatonische Skala mit der Struktur 5L 2s (5 grosse, 2 kleine Intervalle), wobei bei letzterer L ein Ganzton und s ein Halbton ist. Je nach Generator (und Periode) ergeben sich verschiedene typische MOS-Skalentypen.
  • Wenn Generator und Periode einer regulären Temperatur beide Teil einer gleichstufigen Stimmung sind, kann die gleichstufige Stimmung als Realisierung dieser Temperatur gesehen werden - man sagt dann, die gleichstufige Stimmung unterstützt diese Temperatur. Die gleichstufige Stimmung "erbt" dann sozusagen die für die Temperatur typischen Intervallbeziehungen, melodischen und harmonischen Wendungen (Kommapumpen).
  • Gleichstufige Stimmungen, welche dieselbe reguläre Temperatur unterstützen, sind deshalb nah verwandt. Man kann musikalische Werke, welche für ein mitteltöniges Tonsystem geschrieben wurden, also etwa barocke oder klassische Werke, in der Regel ohne weiteres in 19-EDO oder 31-EDO spielen, weil diese Systeme ebenfalls mitteltönig sind und so dieselben melodischen und harmonischen Wendungen unterstützen. Bei Systemen, welche die mitteltönige Temperatur nicht unterstützen, wie 22-EDO, geht das zum Teil nicht so gut - was natürlich seinerseits gewollt sein kann, wenn der Komponist Neuland beschreiten möchte.

Die im vorherigen Kapitel beschriebene Mittelposition zwischen reinen und gleichstufigen Stimmungen gilt natürlich ebenso für jeder reguläte Temperatur.

Einfaches alternatives Beispiel: Porcupine-Temperatur

Ein einfaches Beispiel für eine von der mitteltönigen verschiedenen regulären Temperatur ist die Porcupine-Temperatur, welche als guter Einstiegspunkt für die gleichstufigen Systeme 15-EDO und 22-EDO gelten kann.

Bei dieser wird das Intervall 250/243 (welches entsprechend Porcupine-Komma heisst) austemperiert. Dieses Intervall (etwa 49.166 Cent gross) erscheint in reiner Stimmung als Differenz zwischen drei "kleinen Ganztönen" (10/9) und einer reinen Quarte (4/3), oder aber zwischen zwei reinen Quarten und drei kleinen Terzen (6/5).

Porcupine-Systeme haben als Generator einen (etwas herabtemperierten) kleinen Ganzton. Drei Generatorenschritte bilden eine Quarte - eine Quarte ist also in drei gleiche Teile teilbar. Sechs Generatorenschritte bilden eine kleine Septime - welche ihrerseits in drei kleine Terzen teilbar ist, woraus folgt, dass zwei Generatorenschritte eine kleine Terz bilden, die kleine Terz also in zwei gleiche Teile teilbar ist.

Die siebentönige MOS-Skala von Porcupine hat die Form 1L 6s, wobei s der kleine Ganzton ist und L das Komplement der kleinen Septime, d.h. ein grosser Ganzton. Grosser und kleiner Ganzton sind bei Porcupine-Systemen in der Regel verschieden. Das Intervall 1L+1s, ein grosser plus ein kleiner Ganzton, muss natürlich der grossen Terz entsprechen; die Quinte als Komplement der Quarte wird in der heptatonischen Porcupine-Skala gebildet aus 1L+3s.

Noch mehr Dinge kann man ableiten: etwa, dass die heptatonische Porcupine-Skala zwei Dur-Modi hat, Lssssss und sLsssss, welche beide aber nicht über eine reine Quarte (3s) verfügen, sondern das etwas höhere Intervall 1L+2s, welches dem Alphorn-Fa ähnelt. Die Dur-Skala Lssssss beginnt also mit Approximationen von grossem Ganzton, reiner grosser Terz, Alphorn-Fa und Quinte - eine Approximation der Oberton-Skala (wobei die Güte der Approximation von der konkreten Grösse des Generators abhängt). Ebenso verfügt die heptatonische Porcupine-Skala über 2 Moll-Modi, sssLsss und ssLssss, der erste mit reiner Quarte und symmetrischer Struktur (zwei identische Tetrachorde der Form sss), der zweite mit "Alphorn-Fa"-Quarte.

Wir erhalten also auf einfache Weise eine Reihe von Eigenschaften und Strukturen, die teils vertraut sind, sich teils aber auch von mitteltönigen Systemen deutlich unterscheiden. Und all dies, das nicht zu vergessen, folgt sozusagen direkt aus der Austemperierung des Porcupine-Kommas. Man ahnt das Potential, das in so einem Komma steckt - es präsentiert sich hier geradezu als Wundertüte, die praktisch von selbst eine Fülle von Skalen und Intervallbeziehungen ausspuckt, welche der Xenharmoniker direkt verwenden kann.

Mathematischer Ansatz

Was bis hier allgemeinverständlich beschrieben wurde, lässt sich auch strenger mathematisch formulieren. Siehe hierzu Verallgemeinerte reguläre Temperatur.

Katalog der regulären Temperaturen

Das Universum aller möglichen regulären Temperaturen, mit allen möglichen Varianten von Generatoren (und Perioden), kann mit Fug und Recht als unermesslich bezeichnet werden. Eine grosse Menge solcher verallgemeinerter Temperaturen ist mittlerweile beschrieben und untersucht worden, in Bezug auf ihre Eigenschaften wie: Kommas, die sie austemperieren, und die daraus resultierenden Intervallbeziehungen, typische MOS-Skalen, gleichstufige Temperaturen, die sie unterstützen. Vielen Temperaturen wurden eigene (mehr oder weniger exotische/witzige/intelligente) Namen verpasst. Das englische Xenharmonic Wiki bietet hier eine gute Referenz mit einer mittlerweile fast unübersehbaren Fülle von Informationen.

Seiten zu konkreten Temperaturen in diesem Wiki: